Literarische Routen
„Die jungen sardischen Künstler nennen Nuoro scherzhaft das Athen Sardiniens. Und tatsächlich ist es die kultivierteste und kämpferischste Stadt der Insel.“ Dies schrieb Grazia Deledda 1894 in einer Einleitung zu einer Geschichten-Sammlung über die Volkstraditionen ihrer Stadt, die sie zwischen August des gleichen Jahres und Mai des Folgejahres in der Zeitschrift Rivista delle tradizioni popolari italiane, herausgegeben von Angelo De Gubernatis, veröffentlichen sollte.
Später, im gleichen Text, beschreibt die Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin des Jahres 1927 die Armut im Dorf. Sie erzählt von „Gruppen dunkler, moosbedeckter Häuser mit den Zäunen und den verlassenen Gemüsegärten [die] aussehen wie Überbleibsel eines zerstörten und in Vergessenheit geratenen mittelalterlichen Dorfes“.
Es ist die kleine Stadt, in der Deledda ihre Kindheit und frühe Jugend verbrachte. Arm, ja: aber es war eine Armut voller Würde, genau wie der Charakter ihrer Bewohner. Eine Stadt, die größtenteils von der immensen Landschaft, von Bergen umgeben ist, und die fast ausschließlich von der Landwirtschaft und der Schafszucht lebt. Aber es ist auch die Stadt, in der sich ein kleiner Teil des ehemaligen Adels aufhält, der jedoch Gefahr läuft, im Geiste des neuen Reiches von der Bourgeoisie verdrängt zu werden. Guido Piovene, ein bedeutender italienischer Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts und ein hervorragender Autor von Reiseberichten, bemerkte: In Nuoro fällt auf, dass Menschen sich schreiend unterhalten: Bauern aus dem Umland, die es gewohnt sind, in weitgehend unbewohnten Flächen zu leben“ . Diese Landschaften/Flächen sind die Leinwände, auf denen der Name Grazia Deledda unsterblich wurde. Aber auf der anderen Seite erwähnt die Autorin auch jene Gassen in der Stadt, in der die antike agropastorale Welt sich mit der Bürgerlichen vermischt, die sich wiederum im Laufe der Zeit mit dem Adel verflochten hatte, der bald ganz verschwunden war. Die Welt, wie die des großen Dichters und Advokaten Sebastiano Satta, der sehr viel berühmter war – bemerkte noch Piovene – als die große Schriftstellerin, wenigstens bei ihren Mitbürgern.
In Nuoro werden bestimmte Schriftsteller geboren, andere sind auf der Durchreise. David Herbert Lawrence, der mit einer äußerst unbequemen und schäbigen Kutsche im Corso von Nuoro ankam, bemerkt sofort die Spuren der berühmten Schriftstellerin. Und zwar auf einem fast namensgleichen Schild eines Friseurs, „De Ledda“. Ein Jahrzehnt später, mit einem anderen Verkehrsmittel – einem lauten Bus, dem Torpedone – kommt ein Gigant der italienischen Erzählung des zwanzigsten Jahrhunderts, Elio Vittorini, in Nuoro an. Seine Reise durch Sardinien ist eine Tour de Force von wenigen Tagen, über Land, von Nord nach Süd, gekrönt von einem Aufstieg nach Norden, ruhig und friedlich, über das Meer: ein Aufenthalt, der im Übrigen von einer Zeitschrift organisiert wurde, die ein Preisgeld für das beste Tagebuch über Sardinien aussetzte. Die Absicht dahinter war, an eine andere Schriftstellerreise zu erinnern, nämlich die des Gabriele D'Annunzio, der Nuoro ebenfalls besucht hatte (zusammen mit Edoardo Scarfoglio und Cesare Pescarella) und es mit weinendem Herzen verließ. Vittorini, wie schon Lawrence, erfasst nicht den Aspekt der aufkommenden Bourgeoisie in Nuoro: dies war wohl auch in dieser kurzen Zeit nicht möglich. Aber an einem gewissen Punkt, als er auf den Hügel mit der Kathedrale (ein "gerupfter Kuckuck") klettert, entdeckt er einen Mann, der sich hinter den Kaktusfeigen versteckt, weil er von Krähen angegriffen wird: vermutlich die Kusinen der Krähen von Salvatore Satta: „Nuoro war bloss ein Krähennest, ist aber doch, wie Gallien, dreigeteilt.“ In diesen drei Teilen – Séuna, San Pietro und das zentrale Gebiet um den Corso, die Via Majore – lebten die verschiedenen Klassen, die das soziale Gerüst der Stadt bildeten; die historischen, die Bauern von Séuna, die Hirten von Santu Predu, der Adel des Corso, zu dem sich die bereits erwähnte aufstrebende Bourgeoisie gesellte, eine Spur jener Moderne, die das Ende der Welt von damals bedeutete. Vielleicht beginnt, zumindest symbolisch, die Stadt Satta aus diesem Grund am Friedhof.
Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts lebten und arbeiteten neben Grazia Deledda weitere Schriftsteller in Nuoro, wie der bereits erwähnte Sebastiano Satta, der sowohl auf Sardisch als auch auf Italienisch schrieb, oder Pascale Dessanay, der für sein Werk in der Sprache Limba in Erinnerung blieb: ganz zu schweigen von einem Maler wie Antonio Ballero, der sich auch kurz als Romanzier bestätigte und 1884 Don Zua. Die Geschichte einer Adelsfamilie im Zentrum Sardiniens veröffentlichte. Aber gerade durch Deledda und Satta wird Nuoro mit den Begriffen einer klar definierten Epoche zu einem unsterblichen literarischen Ort. Die Stadt, die sich im Umschwung befindet und dennoch in gewisser Weise in der Schuld der beiden großen Schriftsteller steht, bleibt weiterhin Protagonist in den Büchern anderer Autoren, von Maria Giacobbe bis Marcello Fois. Machen wir uns also mit Grazie Deledda und Salvatore Satta in der Tasche auf den Weg durch die Straßen der Stadt.